Die letzten Tage und Nächte habe ich im Krankenhaus verbracht. Ich schreibe jetzt einfach mal und werde sehen, wie ich das Ganze irgendwann online bekomme. Guimings Zustand ist so kritisch geworden, dass wir zu Hause nicht mehr zurecht kamen und ich meinen Aufenthalt in Shanghai bis Sonntag verlängert habe. Hier im Krankenhaus können wir zumindest das Bett aufrichten um im Nahrung und Flüssigkeit einzuflößen, ohne dass er sich verschluckt. Er hat seit fünf Tagen über 40 Grad Fieber und ist so schwach, dass er nicht mal mehr seine Hände bewegen kann. Wenn er spricht, kann er nur unter großer Anstrengung ein bis zwei Worte flüstern. Es ist sehr schwer ihn zu verstehen. Meist spricht er deutsch, was die Sache für seine Familie und die Krankenschwester nicht einfacher macht. Bei Ankunft im Krankenhaus mussten wir erstmal in einem so genannten Beobachtungszimmer mit zwölf (!) anderen Patienten ausharren. Nach Hinterlegung von 500,- Euro durften wir dann auf die Station. Da der Bruder Arzt ist und Beziehungen hat, konnten wir (gegen Aufpreis) ein Vier-Bett-Zimmer mit Dusche, Klo und Kühlschrank für uns allein bekommen. So können wir hier schlafen und immer bei Guiming sein. Angesichts des überfüllten Aufnahmeraumes frage ich mich zwar, ob das richtig sein kann, bin aber froh über diese für uns und Guiming angenehme Tatsache. Guiming liegt an einem ruhigen Fenster mit Grün und Sonne davor.
Auch die Krankenschwester ist gegen Bezahlung Tag und Nacht hier und erleichtert uns die Pflege. Darüber hinaus ist Guimings Schwester aus Peking zurückgekommen und umsorgt ihn liebevoll Tag und Nacht. Gerade singt sie leise ein Schlaflied für ihn.
Warum genau das Fieber so hoch ist, vermag ich nicht zu sagen, da zu viele ungünstige Faktoren zusammenkommen: Nachwirkungen von Strahlen- und Chemotherapie im Bezug auf das katastrophale Blutbild, die Entzündung wegen des Ports, der Hirntumor selbst… Gemäß der Patientenverfügung, die Guiming mit mir noch in Deutschland ausgefüllt hatte, möchte er in aussichtsloser Lage keine lebensverlängernden Maßnahmen sondern lediglich, dass er schmerzfrei sein kann und sein Durst gestillt wird. Wir füttern ihn darüber hinaus noch und kühlen ihn mit Eis und kalten Umschlägen aber Medikamente bekommt er keine mehr. Er ist zwar noch ansprechbar und relativ klar aber kann sich wegen der Schwäche kaum äußern. Wir drehen ihn manchmal auf die Seite, damit er sich nicht wund liegt aber das Bewegen bereitet ihm nach wie vor große Schmerzen.
Die Situation ist emotional sehr kompliziert, weil man einerseits wünscht, dass es ihm ein bisschen besser gehen möge, das aber wiederum bedeutete, dass er insgesamt länger leiden müsste. Es ist äußerst schwierig in so einer Gemengelage die eigenen egoistischen Wünsche so weit herauszufiltern, dass man am Ende die für Guiming beste Entscheidung trifft. Gedanken, die mich beschäftigen sind zum Beispiel:
Es tut so weh ihn hilflos leiden zu sehen, dass ich wünschte, er ginge schnell, damit er erlöst wird und auch ich es leichter habe. Es gibt ohnehin keine Hoffnung mehr. Vielleicht ist das Fieber aber vorübergehend und er kann danach noch einige Zeit zu Kräften kommen?! Ich wünschte, er bliebe noch bei uns und möchte ihn noch nicht verlieren. Vielleicht gibt es noch eine kleine Chance, weil Tumorzellen empfindlich auf hohe Temperaturen reagieren und das Fieber ist das rettende Wunder?! Wenn nicht, ist jeder weitere qualvolle Tag für ihn unterm Strich noch lebenswert?
Guiming erwähnte in Deutschland mal, dass er glaube, zu wissen, wenn der Zeitpunkt gekommen sei, zu sterben. Er hatte diese Erfahrung nämlich vor zwei Jahren gemacht, als seine starke und überraschende Hirnblutung ihn an die Schwelle des Todes führte und nur die Notoperation der Ärzte ihn rettete. Wegen der oben skizzierten Zweifel habe ich mich daher getraut, Guiming zu fragen, ob er glaubt zu sterben. Er hat das bejaht. Deswegen gehe ich auch heute Nacht nicht heim, obwohl ich gerne einmal zu Hause geduscht hätte.
Hier sind nämlich derzeit um die 30 Grad und es ist schwül. Die Dusche im Zimmer ist zwar vorhanden, hat aber ein Schild, das besagt, dass es warmes Wasser nur von 15-17 Uhr gibt. Darauf hatte ich mich gestern verlassen, wollte heute duschen, habe aber die Rechnung ohne die Krankenhausverwaltung gemacht, die feiertags wohl eine Sonderregelung hat (1. Mai). Somit kam zwar in der genannten Zeit Wasser aus der heißen Leitung aber leider genauso kalt wie immer. Pünktlich um fünf kam dann wieder nur aus der kalten Leitung kaltes Wasser.
So schön es ist, sich in diesem großen Zimmer ungestört aufhalten zu können, ist das Ambiente in diesem Krankenhaus allgemein doch recht spartanisch. Immerhin löst sich in unserem „Luxus“-Zimmer nicht die Farbe von der verschimmelnden Decke, wie ich es in den anderen Zimmern sah. Aber weder der Anblick einer durchs Zimmer huschenden Fünf-Zentimeter-Kakerlake, der Schimmel im Kühlschrank noch die China-übliche Abwesenheit von Klopapier auf den Toiletten sind geeignet, sich hier allzu heimisch zu fühlen.
Auch ungewöhnlich: Die „reiche“ Bekannte musste heute hier im Krankenhaus eine Erkältung behandeln lassen. Ich dachte Wunder, was sie hat. Guimings Bruder und ich haben sie besucht. Sie saß fröhlich mit 50 anderen Patienten in einem Infusionsraum und ließ sich Penicillin über einen Tropf verabreichen. Auf die Frage, was sie habe, meinte sie, ihr Hals sei seit heute (!) leicht entzündet und verschleimt. Sie hustete nicht einmal, schien auch sonst topfit. Ich hatte schon gehört, dass in China Antibiotika wegen jeder Kleinigkeit verabreicht würden, fand diese Methode mit Kanonen auf Spatzen zu schießen dennoch überraschend extrem. Mein Schwager erklärte, dass man es sich wegen Verdienstausfalles nicht leisten könne, krank zu sein und deswegen gleich aufs Ganze ginge; außerdem sei Penicillin billig. Dass Antibiotika weltweit ihre Wirksamkeit verlieren, weil man durch den übermäßigen Einsatz resistente Bakterienstämme schafft, die potentiell wirklich gefährlich sind, ist den Chinesen wohl bekannt, spielt aber anscheinend eine untergeordnete Rolle.
Um das Krankenhaus herum gibt es viele kleine Restaurants und Garküchen. Meistens esse ich so genannte Baozi: fast faustgroße Teigkugeln mit Gemüse/Tofu/Pilz/Glasnudel- oder süßer Füllung. Die werden hier an jeder Ecke in runden Holkörben gedünstet, wie auf den Bildern zu sehen. Drei davon sind eine gute und leckere Mahlzeit. Ein Baozi kostet übrigens ganze sechs Euro-Cent.
Die Verfügbarkeit und Qualität des Essens gefällt mir am übrigens am besten in China. Aber auch der Service hat eine ganz andere Qualität als in Deutschland. Überall sind (wegen des geringen Lohnniveaus?) so viele scheinbar untätige Angestellte vor Ort, dass man immer sofort bedient wird und Hilfe bekommt. In den meisten Bussen sitzen Schaffnerinnen auf einem speziellen Platz im hinteren Bereich, die die Entgelte kassieren und Fahrscheine verteilen.
Gestern war ich auf der anderen Straßenseite beim Friseur (gibt’s hier mehr, als bei uns Apotheken) und habe mir die Haare waschen, schneiden und färben lassen. Ein Angestellter hat gewaschen, wobei eine Kopfmassage mit dabei war. Der nächste hat die Haare sorgfältig gefärbt und mir im Gegensatz zu deutschen Friseuren nicht die Stirn oder Ohren gleich mitcoloriert. Ein Dritter hat meine Haare so zeitaufwändig und genau geschnitten, dass ich mit dem Ergebnis zum ersten Mal seit Jahren auf Anhieb zufrieden war (das Erklären meiner Vorstellungen und Preisaushandeln hatte Yadong vorher für mich übernommen). Gekostet hat der Spaß sechs Euro 50. Trinkgeld durfte der Friseur nicht annehmen, weil der Chef es aus unbekannten Gründen verboten hat. Das ist in China nicht ungewöhnlich.
Der gute Service in China hat aber auch andere Seiten. Zum einen ist der Verdienst in diesen Berufen natürlich sehr gering. Zum anderen agieren die Kunden verglichen mit Deutschland auch oft herrisch und herablassend. Sei es, ob man im Supermarkt etwas aus dem Regal nimmt und bei Nichtgefallen irgendwo hin zurückwirft (sollen doch die Angestellten das wieder zurückräumen) oder ob man im Restaurant die Bedienung anblafft, als handele es sich um Leibeigene, wenn nicht sogar Sklaven. Ich kann das nicht auf China bezogen verallgemeinern aber in Shanghai stört mich am meisten die rücksichtslose Art des Umgangs fremder Menschen untereinander.
Am deutlichsten wird das für mich immer im Straßenverkehr: Wenn die leere U-Bahn die erste Station anfährt, positionieren sich die Fahrgäste auf dem Bahnsteig an den Einstiegsmarkierungen. Sobald sich die Türen öffnen, gilt das Recht des Stärkeren und jeder versucht rennend und drängelnd einen Platz zu ergattern. Sicher, die Fahrten sind lang und das Stehen nervt. Aber warum sollen die gerade die Schwächsten (Alte, Schwangere) stehen? Ein Platz wird ihnen in Bus und Bahn wenn überhaupt wohl nur in Ausnahmefällen angeboten. Yadong sagt, er habe das eine Zeit lang versucht aber anstelle eines Dankeschöns Blicke geerntet, als sei er ein Idiot. Wenn die Bahn an einer normalen Station hält, steigen die Leute gleichzeitig ein und aus, was den Vorgang weder angenehmer noch zeiteffizienter macht.
Die Straßenverkehrsregeln selbst scheinen weitgehend nur Empfehlungscharakter zu haben: Fußgänger gehen auf der Straße, Motorradfahrer fahren schon mal (hupend!) auf dem Gehweg, rechts abbiegende Autos schieben sich zwischen den Fußgängern über die Ampeln. Allgemein scheint die große Mehrheit der Kraftfahrer die Bremse mit der Hupe zu verwechseln: In Gefahrensituationen wird grundsätzlich nicht gebremst sondern man versucht sich durch Lärm eine freie Bahn zu verschaffen. Und zwar nicht nur ein- sondern gerne auch dreimal hintereinander. Ich empfinde das immer als unverständlich und vor allem extrem nervig. Wenn man Pech hat, erwischt man einen zwangsneurotisch hupenden Busfahrer und darf über die gesamte Fahrtdauer an seiner Frustration darüber teilhaben, dass seine Eltern ihm als Kind kein Musikinstrument gekauft haben. Wenn ein Busfahrer es eilig hat, wartet er nicht, bis der letzte sicher eingestiegen ist, sondern fährt schon mal versuchsweise los und bremst bei lautstarkem Protest noch mal gnädig ab. Zebrastreifen bedeuten wohl, dass man sie als Übergang benutzen soll, gebremst wird aber dennoch nur, wenn Kollisionsgefahr besteht, so dass man als Fußgänger lieber wartet (habe ich in der DDR übrigens ähnlich erfahren). Dass jemand richtig unter die Räder gekommen, ist habe ich zwar nur einmal erlebt (Motorradfahrer und Transporter), insofern scheint das System auf seine Weise zu funktionieren. Ich bevorzuge dennoch unsere scheinbar überregulierte Variante, die Rücksichtnahme in den Vordergrund stellt. Besser als in unserem Verkehrssystem sind hier die Ampeln: Sie blinken grün für die Kraftfahrzeuge, bevor sie auf gelb umschalten und für die Fußgänger wird für die letzten zwanzig Sekunden der Grünphase ein Countdown angezeigt. Außerdem stehen an jeder größeren Innenstadtkreuzung Verkehrshelfer, die zusätzlich zu den Ampeln Ordnung ins Chaos bringen.
Die leerlaufenden Motoren hatte ich ja bereits mehrfach erwähnt aber ein paar andere Beispiele für rücksichtsloses Verhalten (wenn auch nicht typisch für alle aber doch weit mehr verbreitet, als z.B. bei uns), sind:
Viele Menschen reden extrem laut. Der Arzt schreit beim Patientengespräch, als hätte er es ausnahmslos mit Schwerhörigen zu tun. Auf den Krankenhausfluren lärmt das Personal auch nachts rum wie auf einer Baustelle. Handy-Klingeltöne sind oft auf Maximallautstärke eingestellt. In Bus und Bahn brüllen manche Leute in ihre Handys, als wollten sie Netzprobleme mit Direktschall überbrücken. Es wird unbekümmert auf die Straße gerotzt. Im heißen, vollen Bus wird schon mal gefurzt, um keine Langeweile aufkommen zu lassen. In Schlangen wird sich kackdreist vorgedrängelt und dem Frechdachs vorwurfsvoll ins Gesicht zu blicken löst keinen Anflug von Scham aus.
Solche Kleinigkeiten lassen die Atmosphäre in der Stadt manchmal egoistisch und dezent unmenschlich erscheinen.
Andererseits: Frauen haben besonders in Shanghai eine sehr starke Position und sind oftmals diejenigen, die die in der Familie das Sagen haben. Die Menschen sind gast- und ausgesprochen ausländerfreundlich. Obwohl jeder mit sich selbst beschäftigt scheint, sind die Shanghaier sehr hilfsbereit und geben z.B. bereitwillig Auskunft (nicht nur mir als Ausländer). Niemand wirkt aggressiv oder bedrohlich, wenn man durch die Stadt geht. Innerhalb des Freundes- und Bekanntenkreises unterstützt man sich nach Kräften und ich habe die Leute durchweg als großzügig erlebt. p>
Als Fazit würde ich sagen, dass die Shanghai auf jeden Fall seine Reize hat und aus touristischer Sicht einen Besuch wert ist. Allerdings würden drei bis fünf Tage sicher reichen und man sollte stattdessen noch andere chinesische Gegenden oder Städte, z.B. Peking besuchen, das per Flugzeug von hier nur siebzig Euro entfernt ist. Trotz vieler kleiner Besonderheiten sind die kulturellen Unterschiede doch nicht so groß, wie man nach Jahrtausenden getrennter Entwicklung vielleicht meinen könnte. Das befremdlichste und somit exotischste hier waren für mich nicht die Menschen, ihre Eigenheiten oder ihre Sprache sondern schlicht und einfach die allgegenwärtige Schrift. Rein gar nicht lesen zu können ist eine ungewöhnliche Erfahrung und verkompliziert vieles.
Ich hoffe, dass ich mit meinen Ausführungen neue Einblicke vermitteln konnte und selten gelangweilt habe. Da ich nicht weiß, wie sich hier die Dinge entwickeln, werde ich womöglich erst in Hannover einen abschließenden Eintrag schreiben und sage schon mal Tschüß und bis bald!
Tags: Shanghai
Hallo Stefan, wir haben gerade den neuen Tagebucheintrag gelesen und waren sehr berührt, auch von Guimings Foto. Wir wünschen Dir viel Kraft und hoffen Dich bald wohlbehalten wiederzusehen! Sag Ming, dass wir an ihn denken. Ich hatte etwas Skrupel, Dich in der derzeitigen Situation anzurufen, da ich ja eigentlich doch nicht weiß, was ich sagen kann. Ramona meinte, ich sollte doch mal durchklingeln und dann hatte ich mehrmals nur eine nette chinesische (Tonband)-Dame am Apparat.
Halt die Ohren steiff und bis bald!
Achim und John
Hallo Stefan, wenn eigentlich unbekannterweise; ich denke oft an Dich und Guiming, und ich wünsche euch alle Ruhe und Kraft.
Edel